Narzissmus und die Imaginäre Bedürfnis-Erfüllungsmaschine: Eine Neue Perspektive?

In der Psychologie und Psychoanalyse wird Narzissmus seit Langem als Entwicklungsstörung verstanden, die sich oft auf Erfahrungen in der frühen Kindheit zurückführen lässt. Klassische Theorien wie jene von Sigmund Freud und Heinz Kohut betonen vor allem die Bedeutung der Eltern-Kind-Beziehung. Kohut argumentiert beispielsweise, dass das Fehlen von empathischer Spiegelung durch die Eltern zu einem sogenannten „narzisstischen Mangel“ führt. Freud sah im Narzissmus eine Überbetonung des eigenen Ego, das sich um das eigene Selbst zentriert, oft zulasten der Beziehungen zu anderen Menschen.

Doch könnte es sein, dass Narzissten nicht nur eine Überbetonung ihres Selbst erleben, sondern überhaupt kein stabiles Ego entwickeln? Könnte es sein, dass sie in einer Art unbewusster Verschmelzung mit einer imaginären „Bedürfnis-Erfüllungsmaschine“ verharren – einer inneren Vorstellung, dass die Welt dazu da ist, all ihre Bedürfnisse bedingungslos zu befriedigen?

Dieser Ansatz bietet eine neue Querverbindung zwischen klassischen psychoanalytischen Theorien und Lacans Konzept des objet petit a – dem unerreichbaren Objekt des Begehrens. Laut Lacan ist das objet petit a ein symbolisches Objekt, das man immer sucht, aber nie vollständig erlangen kann. Es repräsentiert das Gefühl des Mangels, das tief in uns allen steckt und unser Begehren antreibt. Dieser „Mangel“ entsteht, wenn wir begreifen, dass die Mutter (oder eine andere primäre Bezugsperson) nicht immer alle unsere Wünsche und Bedürfnisse erfüllen kann.

Narzissmus als permanente Verschmelzung

In dieser neuen Perspektive könnten wir Narzissmus als einen Zustand verstehen, in dem diese Trennung nie vollständig akzeptiert wurde. Der Narzisst verharrt in einem frühen Stadium der Entwicklung, in dem er sich noch als eins mit der Mutter oder einem idealisierten Bedürfnisobjekt wahrnimmt. Dieses Bedürfnisobjekt, das in der Kindheit die Mutter war, wird später auf andere Menschen übertragen – Partner, Freunde, sogar Kollegen – die der Narzisst als Erweiterungen seines Selbst ansieht. Sie sollen, ähnlich wie eine „Maschine“, dazu da sein, seine Bedürfnisse zu erfüllen.

Dieser Zustand der unbewussten Verschmelzung erklärt auch, warum Narzissten so oft manipulatives und kontrollierendes Verhalten zeigen. Sie haben Schwierigkeiten, die Autonomie anderer Menschen zu akzeptieren, weil sie nie wirklich eine stabile, eigenständige Identität entwickelt haben. Stattdessen sehen sie andere als Werkzeuge zur Bedürfnisbefriedigung, ähnlich wie ein Kind, das die Mutter in der frühen Phase seines Lebens als eine Erweiterung seines Selbst wahrnimmt.

Das objet petit a und der unerfüllbare Wunsch

Hier kommt Lacans Konzept des objet petit a ins Spiel. Der Narzisst sucht ständig nach einer Art „wiedervereinigter Ganzheit“, die er in anderen Menschen zu finden hofft. Aber wie Lacan erklärt, ist das objet petit a unerreichbar. Der Narzisst wird nie das Gefühl haben, dass seine Bedürfnisse wirklich erfüllt werden – weil es sich nicht um reale, sondern um symbolische Bedürfnisse handelt, die tief in seinem Unbewussten verwurzelt sind.

Das erklärt auch, warum Narzissten selten zufrieden sind. Selbst wenn sie glauben, ihren „perfekten Partner“ oder ihre „perfekte Situation“ gefunden zu haben, bleibt das Begehren bestehen. Es ist, als ob sie immer wieder auf der Suche nach diesem einen unerreichbaren Objekt wären, das sie vollständig befriedigen könnte. Doch da dieses Objekt nicht existiert, bleibt der Narzisst in einem endlosen Zyklus von Suche, Enttäuschung und weiteren Manipulationen gefangen.

Eine neue Verbindung im Diskurs

Dieser Ansatz stellt eine spannende Querverbindung zwischen psychoanalytischen Theorien und modernen Interpretationen von Narzissmus her. Während die klassischen Theorien die Entwicklung des Narzissmus auf genetische Veranlagungen oder Erziehungsmuster zurückführen, könnte diese neue Perspektive erklären, warum Narzissten so tief in ihrer Manipulation und Kontrolle verharren: Sie handeln weiterhin unbewusst aus einer Position heraus, in der sie keine vollständige Abgrenzung zwischen sich selbst und anderen akzeptieren können. Andere Menschen sind in ihren Augen immer noch „Maschinen“, die dazu da sind, ihre Bedürfnisse zu befriedigen – eine Illusion, die sie nie wirklich überwinden.

Diese Sichtweise bringt auch neue Einsichten in das narzisstische Verlangen nach Kontrolle und Anerkennung. Der Narzisst strebt nach etwas, das er symbolisch verloren hat, aber nie wirklich erlangen kann. Diese unbewusste Fixierung auf das objet petit a – auf das unerreichbare Objekt des Begehrens – könnte erklären, warum narzisstische Menschen oft als „getrieben“ oder „unerfüllbar“ wahrgenommen werden.

Fazit

Narzissten könnten im Prinzip in einer frühkindlichen Entwicklungsphase gefangen sein, in der sie weiterhin in einer imaginären Verschmelzung mit einer Bedürfnis-Erfüllungsmaschine leben. Diese neue Perspektive auf Narzissmus eröffnet interessante Ansätze für die Therapie und das Verständnis dieser Persönlichkeitsstörung. Sie erklärt, warum Narzissten so oft Schwierigkeiten haben, stabile und gesunde Beziehungen zu führen – weil sie andere Menschen nicht als eigenständige Individuen akzeptieren können, sondern sie weiterhin als Erweiterung ihres eigenen Selbst wahrnehmen.

Dieser Ansatz bietet nicht nur eine Erweiterung der psychoanalytischen Theorie, sondern auch eine tiefere Einsicht in die Dynamik von Narzissmus und das ständige Suchen nach Erfüllung, das nie zu einem Ende kommt.

- Samusays Oktober 2024